Hello,
ich hoffe, es geht euch gut da drüben! Hier ist alles prima. Das Wetter ist eher so durchwachsen. Man sagt ja, der April macht was er will, aber wieso er in der Monatsmitte noch Schnee will, ist mir relativ unerklärlich. Die Aussicht aus dem Fenster am Morgen mit der weißen Schneedecke ist allerdings phänomenal. Ich mag Schnee ja prinzipiell eh sehr gern, und er verschwindet inzwischen auch im Laufe des Tages ziemlich flott. Ansonsten sind es um die 10 Grad, und heute scheint die Sonne.
In den letzten Tagen war ich öfter in der Kirche als in den letzten 5 Jahren zusammen :-D wir waren an Gründonnerstag, Karfreitag, Samstag und heute an Ostersonntag in jeder Messe. Mein persönliches Highlight war der Donnerstag, als mich der Pfarrer (Priester? Was sind die? Hier heißt er Father) gefragt hat, ob ich ein Apostel sein könnte und mich für das Waschen der Füße (washing of the feet klingt etwas netter) bereit erklären würde. Klingt vermutlich unspektakulär, und offensichtlich war ich noch nie Gründonnerstag in der Messe, aber es war ein Erlebnis. Ich hatte jedenfalls einen Kloß im Hals, weil das ja doch eine besondere Geste ist. Hinsichtlich der bevorstehenden Bachelorarbeit usw. dachte ich mir aber, sowas kann eigentlich nur Glück bringen ;-)
Ich bin ja nun weder besonders bibelfest noch übermäßig religiös, aber hier finde ich das alles bedeutend ansprechender als zuhause. Ich bin auch mit unserem Father auf Facebook befreundet, das sagt schon viel über den Unterschied in der "Beziehung" aus.
Ansonsten war ich auf einer Farm zu Besuch, das war ein echtes Highlight. Die Farm gehört einer Familie die zu unserer Kirche geht. Die sind alle ziemlich groß, weswegen ich auf den Bildern diesen schicken blauen Kinder-Maleranzug trage, der das einzige Kleidungsstück war, das mir annähernd gepasst hat. Das ging aber einigermaßen, bedeutend schwieriger waren die ca. 5 Nummern zu großen Gummistiefel. Seit ihr schon mal kilometerweit durch Matsch auf einer Kuhwiese gestiefelt? Ich davor auch nicht. An einigen Stellen bin ich so tief im Matsch versunken, dass ich an beiden Armen von zwei verschiedenen Personen herausgezogen werden musste. Dass ich keinen Gummistiefel im Matsch verloren habe, ist alles. Schuhe im Matsch verlieren soll ja auch zuhause schon mal vorgekommen sein, habe ich gehört, Mr. Becker? :-D
Anyways, der Grund des Besuchs waren die neuen Kälber. Die sind wirklich unheimlich süß ↓
und man kann sie sogar streicheln!! Zumindest ein paar. Sie haben ganz weiche Nasen und ziemlich dichtes, weiches Fell. Kuschelige Tiere, aber wenn sie groß sind und neugierig auf dich zugerannt kommen gleichzeitig auch dezent einschüchternd. Wir sind also über Feld, Wald und Wiese gestapft und haben den Kälbern Impfungen gegeben und die Ohren mit dem Nummernschild versehen ("wir" beinhaltet mich hier mit einem Eimer hinter den anderen mit dem Matsch und den riesigen Stiefeln kämpfend).
Es folgt eine teils eklige, teils interessante Geschichte - man könnte jetzt sagen, "das ist eben die Natur". Ich war einen Tag später als geplant auf der Farm, weil eine Kuh einen Kaiserschnitt brauchte. Das Kalb war schon tot, und es ging nur noch darum, die Kuh zu retten. Da wollte ich nicht unbedingt im Weg stehen. Die Kuh hat zum Glück überlebt. Die Farmer haben mir erklärt, Kühe haben im Gegensatz zum Menschen eine höhere Wahrscheinlichkeit, Zwillinge zu bekommen. Es gibt dieses Jahr also einige Zwillingspaare, und eine Mutti fand eins der Kälber doof. Irgendwie traurig, aber Kühe sind eben Tiere. Der Plan der Farmer war dann jedenfalls, das verstoßene Kalb als das tote Kalb der Kaiserschnitt-Kuh zu "verkleiden". Sie haben das totgeborene Kalb gehäutet und das Fell dem verstoßenen Kalb "angezogen". Die Vorstellung ist ziemlich eklig, aber es sah überhaupt nicht eklig aus. Die Kälber hatten dieselbe Farbe, und ich gehe mal davon aus, da war kein Anfänger am Werk, weil man den "Anzug" fast nicht sehen konnte. Anne meinte, auf ihrer Farm haben sie das mit Schafen auch manchmal gemacht. Im Grunde ist die Idee ja schön, so hat man (wenn alles funktioniert) kein armes nicht gewolltes Kälbchen, das mit der Flasche aufgezogen werden muss. Die Reste des toten Kalbs haben die Katzen und Hunde gefressen. Alles ein Kreislauf.
Die Kühe werden übrigens geschlachtet. Aber sie haben für die Zeit ihres Lebens immerhin unendlich viel Platz, sind draußen und fressen ausschließlich Gras und Heu. Ziemlich teures Fleisch, würde ich vermuten. Es ist echt cool auf so einer Farm. Der Tag ist im Flug vergangen, und abends war ich super erschöpft und zufrieden.
Mit Vancouver-Canucks Mütze :-)
Anne hat mich nach dem Besuch gefragt, ob es so war, wie ich es mir vorgestellt habe. Ehrlich gesagt, nein. Ich konnte es mir vorher nicht richtig vorstellen. Das ist 100% middle of nowhere. Und zwar nicht wie Vanderhoof, kleines Örtchen und nicht viel drumherum. Das ist 85km vom nächsten kleinen Ort entfernt (noch kleiner als Vanderhoof). Die Straße ist eine unbefestigte Schotterstrecke, manchmal muss man selbst mit dem riesigen Pick-Up Schrittgeschwindigkeit durch kleinere Seen fahren, die sich durch Schmelzwasser auf der Straße gebildet haben. Man fährt also wirklich 1h 45 durch das absolute NICHTS. Da sind nur Bäume und die oberirdische Stromleitung, die einem zeigt, dass am Ende der Straße doch tatsächlich Zivilisation wartet. Ich hatte fast nicht mehr damit gerechnet, um ehrlich zu sein.
Was mich seitdem beschäftigt ist das Weltbild von Kindern, die dort aufwachsen. Kleinstadtkanadier allgemein (gilt vermutlich für die Amerikaner genauso) finde ich sowieso teilweise recht "eingeschränkt" in ihrem Weltbild. Alles ist so wahnsinnig weit weg, und wenn man nie aus seinem Dörfchen herausgekommen ist, mag man vielleicht gar nicht glauben, dass es noch etwas anderes gibt. Aber als Bewohner eines Reserves ist es nochmal eine ganz andere Geschichte. Da ist wirklich nichts in der Gegend, und jeden Tag fahren die sicherlich nicht 170km um in's nächste Mini-Dörfchen zu kommen. Das Leben ist also entweder viel naturverbundener, oder die Kinder sitzen auch dort hauptsächlich vor dem Fernseher. Wenn man dann noch den Alkohol- und Drogenmissbrauch betrachtet (und auch die allgemeinen Missbrauchsraten sind sehr hoch, sowie die Inzuchtrate....) wird relativ schnell klar, dass die Kindheit dort zumindest nicht ganz so idyllisch ist, wie sie sein könnte. Anne hatte viele (um die 10) Pflegekinder aus diesem Reservat, und sie hat mir schon vorher berichtet, dass das immer eins der schlechter geführten war. Auch heute noch werden viele Kinder werden aus den Familien genommen, aber genug Pflegefamilien, die first nations Kinder aufnehmen möchten, gibt es nicht. Stelle ich mir auch nicht einfach vor, mit teils traumatisierten und missbrauchten Kindern aus diesem Umfeld, das so weit entfernt ist von der "normalen" kanadischen Familie. Der Besuch auf diesem Reservat hat jedenfalls einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Ich versuche vergeblich einen Vergleich mit Deutschland zu suchen, aber da fällt mir nichts ein. Sie leben nicht wie obdachlose, aber kümmern sich nicht nach unseren Vorstellungen um sich selbst, ihre Kinder, ihre Häuser und Grundstücke. Die Arbeitsmoral (wenn vorhanden) ist sehr "kommste heut nicht, kommste morgen" - oder auch erst nächste Woche. Da könnt ihr euch also vorstellen, dass das bei Arbeitgebern eher eine unbeliebte Einstellung ist. Aus diesem Sumpf aus negativen Lebensbedingungen herauszukommen stelle ich mir aber auch eher schwierig vor. First nations haben zum Beispiel auch andere gesellschaftliche Regeln als "wir". Beim Händeschütteln schaut man sich nicht in die Augen, das ist recht merkwürdig.
Unabhängig von diesem eher schwierigen und unlösbaren Thema geht es mir aber super gut! Ich habe nach Aschermittwoch ein kleines "after-fasten" fasten begonnen und verzichte seitdem auf mein Handy. Das ist hier so ziemlich die einzige Möglichkeit, weil ich nicht eingebunden in's Arbeitsleben oder die Uni bin und mit Sabrina absprechen muss, ob wir uns nach Dortmund quälen, oder nicht :-D
Jedenfalls ist das ne coole Sache. Ich dachte, ich sei süchtiger, es ist jetzt nicht so, dass ich es vermisse. Eher so, dass ich total entspannt und ungestresst bin. Es war ursprünglich geplant bis morgen, aber vielleicht verlängere ich es ein wenig oder hänge nochmal ne Woche dran in der nächsten Zeit. Mal nicht direkt erreichbar zu sein (Email und Facebook sind ja noch möglich, aber eben nicht ganz so unmittelbar) ist gar nicht schlecht friends, ein bisschen old school so wie vor 10 Jahren. I like it!
Hier noch ein Bild, das laut Andi in den Katalog "So wohl fühlen Sie sich in Kanada" gehört:
Mir geht's echt richtig gut. Wettertechnisch hätte ich mir coolere Monate aussuchen können, aber mal rauszukommen, zur Ruhe kommen und ein bisschen zurück zu mir selbst finden (klingt jetzt lächerlicher als es ist) ist überhaupt nicht schlecht. Ganz im Gegenteil sogar. Es war vermutlich genau das, was ich gebraucht habe.
An diesen Ausblick könnte ich mich aber auch gewöhnen muss ich sagen.
Sending love and hugs from Canada ♥
Paula
ich hoffe, es geht euch gut da drüben! Hier ist alles prima. Das Wetter ist eher so durchwachsen. Man sagt ja, der April macht was er will, aber wieso er in der Monatsmitte noch Schnee will, ist mir relativ unerklärlich. Die Aussicht aus dem Fenster am Morgen mit der weißen Schneedecke ist allerdings phänomenal. Ich mag Schnee ja prinzipiell eh sehr gern, und er verschwindet inzwischen auch im Laufe des Tages ziemlich flott. Ansonsten sind es um die 10 Grad, und heute scheint die Sonne.
In den letzten Tagen war ich öfter in der Kirche als in den letzten 5 Jahren zusammen :-D wir waren an Gründonnerstag, Karfreitag, Samstag und heute an Ostersonntag in jeder Messe. Mein persönliches Highlight war der Donnerstag, als mich der Pfarrer (Priester? Was sind die? Hier heißt er Father) gefragt hat, ob ich ein Apostel sein könnte und mich für das Waschen der Füße (washing of the feet klingt etwas netter) bereit erklären würde. Klingt vermutlich unspektakulär, und offensichtlich war ich noch nie Gründonnerstag in der Messe, aber es war ein Erlebnis. Ich hatte jedenfalls einen Kloß im Hals, weil das ja doch eine besondere Geste ist. Hinsichtlich der bevorstehenden Bachelorarbeit usw. dachte ich mir aber, sowas kann eigentlich nur Glück bringen ;-)
Ich bin ja nun weder besonders bibelfest noch übermäßig religiös, aber hier finde ich das alles bedeutend ansprechender als zuhause. Ich bin auch mit unserem Father auf Facebook befreundet, das sagt schon viel über den Unterschied in der "Beziehung" aus.
Ansonsten war ich auf einer Farm zu Besuch, das war ein echtes Highlight. Die Farm gehört einer Familie die zu unserer Kirche geht. Die sind alle ziemlich groß, weswegen ich auf den Bildern diesen schicken blauen Kinder-Maleranzug trage, der das einzige Kleidungsstück war, das mir annähernd gepasst hat. Das ging aber einigermaßen, bedeutend schwieriger waren die ca. 5 Nummern zu großen Gummistiefel. Seit ihr schon mal kilometerweit durch Matsch auf einer Kuhwiese gestiefelt? Ich davor auch nicht. An einigen Stellen bin ich so tief im Matsch versunken, dass ich an beiden Armen von zwei verschiedenen Personen herausgezogen werden musste. Dass ich keinen Gummistiefel im Matsch verloren habe, ist alles. Schuhe im Matsch verlieren soll ja auch zuhause schon mal vorgekommen sein, habe ich gehört, Mr. Becker? :-D
Anyways, der Grund des Besuchs waren die neuen Kälber. Die sind wirklich unheimlich süß ↓
und man kann sie sogar streicheln!! Zumindest ein paar. Sie haben ganz weiche Nasen und ziemlich dichtes, weiches Fell. Kuschelige Tiere, aber wenn sie groß sind und neugierig auf dich zugerannt kommen gleichzeitig auch dezent einschüchternd. Wir sind also über Feld, Wald und Wiese gestapft und haben den Kälbern Impfungen gegeben und die Ohren mit dem Nummernschild versehen ("wir" beinhaltet mich hier mit einem Eimer hinter den anderen mit dem Matsch und den riesigen Stiefeln kämpfend).
Es folgt eine teils eklige, teils interessante Geschichte - man könnte jetzt sagen, "das ist eben die Natur". Ich war einen Tag später als geplant auf der Farm, weil eine Kuh einen Kaiserschnitt brauchte. Das Kalb war schon tot, und es ging nur noch darum, die Kuh zu retten. Da wollte ich nicht unbedingt im Weg stehen. Die Kuh hat zum Glück überlebt. Die Farmer haben mir erklärt, Kühe haben im Gegensatz zum Menschen eine höhere Wahrscheinlichkeit, Zwillinge zu bekommen. Es gibt dieses Jahr also einige Zwillingspaare, und eine Mutti fand eins der Kälber doof. Irgendwie traurig, aber Kühe sind eben Tiere. Der Plan der Farmer war dann jedenfalls, das verstoßene Kalb als das tote Kalb der Kaiserschnitt-Kuh zu "verkleiden". Sie haben das totgeborene Kalb gehäutet und das Fell dem verstoßenen Kalb "angezogen". Die Vorstellung ist ziemlich eklig, aber es sah überhaupt nicht eklig aus. Die Kälber hatten dieselbe Farbe, und ich gehe mal davon aus, da war kein Anfänger am Werk, weil man den "Anzug" fast nicht sehen konnte. Anne meinte, auf ihrer Farm haben sie das mit Schafen auch manchmal gemacht. Im Grunde ist die Idee ja schön, so hat man (wenn alles funktioniert) kein armes nicht gewolltes Kälbchen, das mit der Flasche aufgezogen werden muss. Die Reste des toten Kalbs haben die Katzen und Hunde gefressen. Alles ein Kreislauf.
Die Kühe werden übrigens geschlachtet. Aber sie haben für die Zeit ihres Lebens immerhin unendlich viel Platz, sind draußen und fressen ausschließlich Gras und Heu. Ziemlich teures Fleisch, würde ich vermuten. Es ist echt cool auf so einer Farm. Der Tag ist im Flug vergangen, und abends war ich super erschöpft und zufrieden.
Mit Vancouver-Canucks Mütze :-)
Bei Neighbourlink ist alles im Lot, ich habe als Küchenfee bei der Suppenküche ausgeholfen, und es war super. Wirklich sehr sehr schön. Zwar sind einige Menschen nicht besonders dankbar für die Hilfe, die sie kriegen (z.B. mich als unbezahlte Kellnerin die ihnen Suppe, Getränke und fast alles was das Herz begehrt bringt), andere dafür umso mehr. Und das ist tatsächlich ein schönes Gefühl, wenn man mit seiner Zeit und ein bisschen Mühe anderen Menschen eine Freude machen kann. Anne hat natürlich mehr Mühe als ich, sie kocht schließlich die Suppe in einem unmenschlich großen Topf. Da bin ich raus, und kellnern ist auch nicht meine Stärke. Aber es hat insgesamt alles hingehauen und ich hatte Spaß. Beim Austeilen der 72 gepackten Tüten habe ich nun auch geholfen. Das ist einfacher, da muss man keine Suppe balancieren, hat aber ähnlich viel Spaß gemacht. Menschen in allen Lebenslagen können die Tüten bekommen, es wird auch nicht groß nachgefragt. Beispielsweise alleinerziehende Eltern am Monatsende bekommen ohne großen Aufwand eine wirklich große Menge an Lebensmitteln sowie frische Milch, Mehl und tiefgefrorenes Fleisch, teilweise von der Farm die ich besucht habe. Ich bin weiterhin echt überzeugt vom Konzept, so eine kleine Community hilft so vielen Menschen.
Was ich etwas erschreckend finde ist, dass einige Menschen die Lebensmittel gegen Alkohol eintauschen oder verkaufen. Vielleicht ist es etwas naiv nicht mit so etwas zu rechnen mag wohl sein. Aber es ist auch recht schwierig dagegen anzugehen. Es gibt ein paar, die diese schwarzen Schafe melden, und da es immer die gleichen Helfer sind und der Koordinator bei allem dabei ist, bekommen die dementsprechend dann nichts mehr. Ich würde sagen 80-90% der Nutzer der Neighbourlink-Angebote sind sogenannte "First Nations". Interessanterweise kennt die im Gegensatz zu Indianern oder Aboriginies aber so gut wie niemand außerhalb des Kontinents. In Kanada haben aber, wie in Australien und Amerika, Menschen gelebt, bevor die Europäer es "entdeckt" haben. Die Nachfahren dieser Menschen heißen hier eben "First Nations" und sind so ziemlich Kanadas größte Sozialbaustelle würde ich behaupten.
Viele von ihnen leben auf sogenannten "reserves" (Reservaten), also abgetrennten Bereichen des Landes, auf dem tatsächlich auch nur sie (oder höchstens angeheiratete Ehegatten nicht first-nations-Abstammung) wohnen dürfen. Klappt, wie man sich vorstellen kann, semi gut bis überhaupt nicht. Wer auf so eine Idee gekommen ist....
Während des Auslandsjahres war ich auf keinem abgelegenen, manchmal fährt man durch eins durch, und die zeichnen sich hauptsächlich dadurch aus, dass sie heruntergekommen und vermüllt sind.
Bill, der Holländer der in Annes kleinem separaten Häuschen im Hof lebt, hat mich jetzt mal mit auf eins dieser Reservate genommen. Es war das "Yekooche First Nations" Reservat.
Anne hat mich nach dem Besuch gefragt, ob es so war, wie ich es mir vorgestellt habe. Ehrlich gesagt, nein. Ich konnte es mir vorher nicht richtig vorstellen. Das ist 100% middle of nowhere. Und zwar nicht wie Vanderhoof, kleines Örtchen und nicht viel drumherum. Das ist 85km vom nächsten kleinen Ort entfernt (noch kleiner als Vanderhoof). Die Straße ist eine unbefestigte Schotterstrecke, manchmal muss man selbst mit dem riesigen Pick-Up Schrittgeschwindigkeit durch kleinere Seen fahren, die sich durch Schmelzwasser auf der Straße gebildet haben. Man fährt also wirklich 1h 45 durch das absolute NICHTS. Da sind nur Bäume und die oberirdische Stromleitung, die einem zeigt, dass am Ende der Straße doch tatsächlich Zivilisation wartet. Ich hatte fast nicht mehr damit gerechnet, um ehrlich zu sein.
Angekommen im Reservat war es dann wieder ein bisschen mehr so, wie ich es mir vorgestellt habe. Die Häuser sind heruntergekommen, überall sind eingeschlagene Fensterscheiben, und in so gut wie jedem vermüllten "Vorgarten" brennt etwas undefinierbares munter vor sich hin. Es gibt eine Schule, obwohl nur 80 Bewohner in Yekooche leben. 2 Lehrer wohnen dort, wechseln aber wohl häufiger, weil scheinbar niemand lange bleiben möchte. Es gibt ein health centre, das topmodern ist und überhaupt nicht in's Bild passt. Ein super schickes Gebäude zwischen all dem Trauerspiel. Ein Arzt ist nie da, Diagnosen werden per Videoübertragung gestellt. Die behandelnden Ärzte sind Spezialisten in Vancouver. Die medizinische Versorgung ist tatsächlich top, man kriegt wohl direkt am nächsten Tag einen "Termin". Das liegt mitunter daran, dass Kanada riesige Mengen an Geld und Förderung in die Lebensverhältnisse der First Nations steckt. Das steht für mich in einem sehr paradoxen Verhältnis dazu, sie absolut dahin abzuschieben, wo nichts ist. Zwar ist es das traditionelle Land des jeweiligen Stammes, auf dem die Reservate sind. Und es ist vielleicht auch schön, dass keine große Ölfirma das Land kaufen darf, um es zu verschandeln. Aber Menschen dorthin "abzuschieben" führt sicherlich nicht zur Lösung deren gesellschaftlicher Probleme oder einer Integration in die Mehrheitsgesellschaft. Sie dürfen dort jederzeit jagen und fischen, aber das Angebot nimmt praktisch niemand mehr wahr. Problematisch wird es an anderen Stellen. Sicherlich könnt ihr euch vorstellen, dass es dort auf dem Reserve eine sehr limitierte Anzahl an Jobs gibt. So gut wie keine um genau zu sein. Die Menschen haben also nicht wirklich große Möglichkeiten, sich zu bilden, außerhalb der Grundschule. Zur High School können sie mit dem Bus ins nächste Dörfchen fahren, ich bezweifle aber, dass das viele tun. Tuberkulose und HIV sind zum Beispiel weit verbreitet unter First Nations, sowie Alkohol- und Drogenmissbrauch. Die Suizidraten sind weitaus höher, die Arbeitslosigkeit ist um Längen höher (die Bildung sehr viel eingeschränkter), und das, obwohl 23% der Kanadier first nations sind. In Gefängnissen sind first nations ebenfalls überrepräsentiert, und sie sterben früher verglichen mit anderen Ethnien.
Hier schlummert also recht unbemerkt ein großes gesellschaftliches Problem für die Kanadier. Schwierig finde ich auch, dass es vielen relativ egal ist, und sie einfach wegschauen. Mir ist jetzt spontan auch noch nicht die eine Lösung eingefallen, aber dieses Abschieben auf Reservate die wirklich im absoluten Nichts sind ist merkwürdig. Hier ein paar Eindrücke, es sieht nicht ganz so schlimm aus, wie es tatsächlich war. Ich bin froh, dass ich ein Bild machen durfte, denn für die first nations ist es üblich, dass sie jemanden einladen, und erst dann kommt er auf's Reserve. Ich war uneingeladen mit Bill unterwegs, und er meinte wenn ich Bilder machen möchte, dann eher unauffällig.
Was mich seitdem beschäftigt ist das Weltbild von Kindern, die dort aufwachsen. Kleinstadtkanadier allgemein (gilt vermutlich für die Amerikaner genauso) finde ich sowieso teilweise recht "eingeschränkt" in ihrem Weltbild. Alles ist so wahnsinnig weit weg, und wenn man nie aus seinem Dörfchen herausgekommen ist, mag man vielleicht gar nicht glauben, dass es noch etwas anderes gibt. Aber als Bewohner eines Reserves ist es nochmal eine ganz andere Geschichte. Da ist wirklich nichts in der Gegend, und jeden Tag fahren die sicherlich nicht 170km um in's nächste Mini-Dörfchen zu kommen. Das Leben ist also entweder viel naturverbundener, oder die Kinder sitzen auch dort hauptsächlich vor dem Fernseher. Wenn man dann noch den Alkohol- und Drogenmissbrauch betrachtet (und auch die allgemeinen Missbrauchsraten sind sehr hoch, sowie die Inzuchtrate....) wird relativ schnell klar, dass die Kindheit dort zumindest nicht ganz so idyllisch ist, wie sie sein könnte. Anne hatte viele (um die 10) Pflegekinder aus diesem Reservat, und sie hat mir schon vorher berichtet, dass das immer eins der schlechter geführten war. Auch heute noch werden viele Kinder werden aus den Familien genommen, aber genug Pflegefamilien, die first nations Kinder aufnehmen möchten, gibt es nicht. Stelle ich mir auch nicht einfach vor, mit teils traumatisierten und missbrauchten Kindern aus diesem Umfeld, das so weit entfernt ist von der "normalen" kanadischen Familie. Der Besuch auf diesem Reservat hat jedenfalls einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Ich versuche vergeblich einen Vergleich mit Deutschland zu suchen, aber da fällt mir nichts ein. Sie leben nicht wie obdachlose, aber kümmern sich nicht nach unseren Vorstellungen um sich selbst, ihre Kinder, ihre Häuser und Grundstücke. Die Arbeitsmoral (wenn vorhanden) ist sehr "kommste heut nicht, kommste morgen" - oder auch erst nächste Woche. Da könnt ihr euch also vorstellen, dass das bei Arbeitgebern eher eine unbeliebte Einstellung ist. Aus diesem Sumpf aus negativen Lebensbedingungen herauszukommen stelle ich mir aber auch eher schwierig vor. First nations haben zum Beispiel auch andere gesellschaftliche Regeln als "wir". Beim Händeschütteln schaut man sich nicht in die Augen, das ist recht merkwürdig.
Unabhängig von diesem eher schwierigen und unlösbaren Thema geht es mir aber super gut! Ich habe nach Aschermittwoch ein kleines "after-fasten" fasten begonnen und verzichte seitdem auf mein Handy. Das ist hier so ziemlich die einzige Möglichkeit, weil ich nicht eingebunden in's Arbeitsleben oder die Uni bin und mit Sabrina absprechen muss, ob wir uns nach Dortmund quälen, oder nicht :-D
Jedenfalls ist das ne coole Sache. Ich dachte, ich sei süchtiger, es ist jetzt nicht so, dass ich es vermisse. Eher so, dass ich total entspannt und ungestresst bin. Es war ursprünglich geplant bis morgen, aber vielleicht verlängere ich es ein wenig oder hänge nochmal ne Woche dran in der nächsten Zeit. Mal nicht direkt erreichbar zu sein (Email und Facebook sind ja noch möglich, aber eben nicht ganz so unmittelbar) ist gar nicht schlecht friends, ein bisschen old school so wie vor 10 Jahren. I like it!
Hier noch ein Bild, das laut Andi in den Katalog "So wohl fühlen Sie sich in Kanada" gehört:
Mir geht's echt richtig gut. Wettertechnisch hätte ich mir coolere Monate aussuchen können, aber mal rauszukommen, zur Ruhe kommen und ein bisschen zurück zu mir selbst finden (klingt jetzt lächerlicher als es ist) ist überhaupt nicht schlecht. Ganz im Gegenteil sogar. Es war vermutlich genau das, was ich gebraucht habe.
An diesen Ausblick könnte ich mich aber auch gewöhnen muss ich sagen.
Sending love and hugs from Canada ♥
Paula
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